Kinderreise 2017

Reisereportage über PastellTours in "spielen und lernen" (Verlag: Family Media, Freiburg)

"Kinderreisen ohne Eltern: Abenteuer Paddelcamp

Die ersten Sonnenstrahlen funkeln durch das Geäst der Bäume. Über dem Campingplatz liegt vollkommene Stille. Eine Schwänin zieht mit zwei Jungen am nahen Seeufer majestätisch ihre Bahn. Hoch am Himmel fliegen Wildgänse in Keilformation. An einem Zelt öffnet sich ein Reißverschluss. Julian schiebt seinen Kopf ins Freie. Zufrieden registriert er, dass außer ihm noch niemand wach ist. Mit Zahnbürste und Zahnpastatube in der Hand schlängelt er sich aus dem Zeltausgang. Barfuß und im Frotteepyjama schlendert er die Wiese zum Waschhaus hinauf. Wie die Tautropfen zwischen den Zehen kitzeln! Julians Füße hinterlassen dunkle Abdrücke im taufeuchten Gras.

Der Neunjährige ist eines von zwölf Kindern, die in diesem Sommer auf einem Naturcampingplatz an der Mecklenburgischen Seenplatte eine gemeinsame Ferienfreizeit verbringen. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Orten in Deutschland. "Das ist kein Problem", sagt die Betreuerin Katja Rossmann. "Die Mädchen und Jungen finden mit unserer Hilfe rasch zu einer Gruppe zusammen." Warum die Kinder hier sind? Viele lockt der Wunsch, zu erproben, wie es ist, ohne Eltern, dafür aber mit Gleichaltrigen mehrere Tage in der Natur oder beim Ausüben einer Sportart zu verbringen. Manchmal haben auch Eltern das Bedürfnis, einmal ohne ihren Nachwuchs zu sich selbst zu kommen. "Angesichts des in der heutigen Zeit herrschenden beruflichen und wirtschaftlichen Drucks ist das ein legitimer Druck, der ernst genommen werden muss", findet Katja Rossmann. "Man sollte ihn sich allerdings nur erfüllen, wenn das Kind emotional so reif ist, dass es eine Reise ohne Eltern verkraftet. Das muss zu Hause sensibel ausgelotet werden." In manchen Fällen ermöglicht das Familienbudget keinen Urlaub für alle. Dann möchten manche Eltern, dass wenigstens der Sohn oder die Tochter in den Genuss einer Luftveränderung kommen.

In jedem Fall offerieren Kirchen, Verbände, Vereine und private Veranstalter ein breites Programmspektrum an betreuten Kinderreisen. Die Eltern haben für ihre Sprösslinge die Wahl zwischen Reiterferien, Fußballlagern, Tennis- oder Segelcamps, einem Paddelcamp, Abenteuerfreizeiten und vielen anderen Angeboten wie Indianer-, Ritter- oder Sprachfreizeiten.

Julian hat sich für eine Paddelfreizeit entschieden. Acht Tage lang wohnen er und seine Ferienkameraden in Zweipersonenzelten auf einem idyllisch gelegenen Areal zwischen Mischwäldern und dem Seeufer. Umsorgt werden sie von zwei erlebnispädagogisch geschulten Betreuern, die man duzen darf, die ebenfalls im Zeltlager wohnen und rund um die Uhr ansprechbar sind. Daniel Lohe entzündet die kleinen Gaskocher, um auf ihnen Frühstückstee und heiße Milch zuzubereiten. Lisa und Sara, die zehnjährigen Zwillinge, holen am nahen Kiosk die abends zuvor bestellten Brötchen ab.

Kevin, Ole und Paul kramen Müslischälchen und Löffel aus den Zelten. Bald sitzen alle Kinder kauend nebeneinander auf der Erde, während Katja Rossmann mit dem Schmieren der Brote für die Mittagspause beschäftigt ist. „Ich will zweimal Käse und einmal nur Butter!“, ruft Franziska. Jedes Kind bekommt zu seinem Lunchpaket einen Apfel ausgehändigt. „Vergesst nicht, eure Wasserflaschen zu füllen und mitzunehmen!“, erinnert Daniel Lohe, während er die leicht verderblichen Lebensmittel in einer eigens installierten Kühltruhe verstaut. Drei Kinder tragen das Frühstücksgeschirr in einem Zuber in den Waschraum, um es dort, begleitet von einer lautstarken Unterhaltung, zu spülen.

Gegen neun Uhr versammelt sich die Gruppe zum Morgenkreis auf dem Bootssteg. Die Landschaft ist betörend schön. „Da, der Mond!“, ruft Michael. Still steht die runde, weiße Scheibe am Westhimmel, während vom Osten her die Sonne den See, das Schilf und den Wald in gleißendes Licht taucht. Vereinzelt springen Fische aus dem Wasser. Libellen fliegen dicht über der Oberfläche. Für einige ist dies ein seltenes Erlebnis. „Bei uns qualmen überall die Autos“, meint Lisa nachdenklich, „und hier duften das Gras und die Erde!“ Alle singen ein Lied, dann wird das Tagesprogramm erläutert. „Puh, schon wieder paddeln“, stöhnt Carla.“ „Wir können doch niemanden alleine hier lassen“, sagt Katja Rossmann. „Wir werden aber mehrere Pausen machen, das versprechen wir dir.“

Alle Zelteingänge werden geschlossen und Regenjacken und Proviant ans Ufer getragen. Dort liegen die Kanus bereit, stabile Kunststoff-Canadier, die trotz ihres ansehnlichen Volumens gut auch von Kindern manövriert werden können. Sie bieten Platz für drei bis fünf Personen. Das Gepäck wird in wasserdichten Plastiktonnen zwischen den Sitzen gesichert. Die Betreuer überzeugen sich mit einem Rundblick, dass alle Kinder ihre Schwimmweste korrekt geschlossen haben. Dann geht es ab aufs Wasser. Jedes Kanu wird mit Insassen in den See hinein geschoben, die ersten Kinder treiben bereits in einiger Entfernung. „Hier bleiben!“, bestimmt Daniel Lohe. „Keiner fährt los, bevor ich es sage!“

Sein Boot führt die kleine Flotte an. Das Paddeln ist für Kinder leicht erlernbar. Voraussetzung für eine Teilnahme an der Freizeit ist aber, dass sie sicher schwimmen können. Mit wenigen Sätzen wurden sie am ersten Tag in die Technik eingewiesen, inzwischen haben sie Routine. Die Paddel werden am oberen Ende mit einer Faust umschlossen und im Gleichtakt mit den anderen Bootsinsassen bewegt.

„Kanufahren lernen bedeutet, Aufgaben und Problemsituationen gemeinsam zu bewältigen“, erläutert Katja Rossmann. „Das macht Spaß und fördert den Teamgeist.“ In losem Abstand paddeln die Kinder am Ufer des Mössensees entlang. Die Fahrrinne halten sie für Segelschiffe und Haus- und Motorboote frei, die im Sommer ebenfalls das weitverzweigte Gewässersystem erkunden: Unzählige Seen sind hier durch Flüsse und Kanäle, die in früheren Jahrhunderten dem Torfabbau dienten, miteinander verbunden.

Die Route führt vorbei an kleinen, goldgelben Sandstränden und an Auenlandschaften mit zarten Gräsern und Farnen. „Wie in „Der Herr der Ringe“ sieht’s hier aus!“, befindet der neunjährige Kevin. Eine von Birken umstandene Bucht, an deren Rändern weiße Seerosen blühen, lädt zur Pause ein. Während die Kinder auf weichen Moospolstern lagern, informiert Daniel Lohe über die lokale Fauna. Er berichtet von See- und Fischadlern, von Graureihern, Kormoranen, Bibern, Fischottern, Waschbären und Wasserratten. Als er erzählt, dass hiesige Jäger in der letzten Zeit sogar Wölfe gesichtet haben, gruselt es die Kleineren. „Da traue ich mich aber nicht mehr allein aufs Klo, wenn es dunkel ist!“, ruft Julian. „Ich begleite dich mit meiner Taschenlampe. Sag mir nur Bescheid“, bietet ihm sein Mitbewohner, der elfjährige Kevin, an.

Diese Reaktion zeigt freut die Betreuer. Sie zeigt, dass die Gruppenbildung im Ferienlager erfolgreich vorangeschritten ist und die Kinder befähigt, manche Probleme nun auch ohne Erwachsene konstruktiv zu lösen. „Mittlerweile hat jedes Kind seinen Platz gefunden, so dass die anfänglichen Rangeleien um die interne Hierarchie der Vergangenheit angehören. Die Teilnehmer genießen die Gemeinschaft, weil die vertraut gewordenen Gesichter und Regeln ihnen in der neuen Umgebung Sicherheit geben“, erklärt Katja Rossberg. Die Erwachsenen müssen nun allerdings dafür sorgen, dass dies nicht auf Kosten unterschiedlicher Meinungen und Wünsche eigener Gruppenmitglieder geht. „Wir betonen deshalb häufiger, dass jemand auch dann zur Gemeinschaft gehört, wenn Wünsche voneinander abweichen, und dass jeder Teilnehmer Kompromisse eingehen muss.“

Die Diemitzer Schleuse lockt. Durch sie gelangt man vom Großen in den Kleinen Peetschsee. Hier warten bereits zwei Motoryachten auf den Durchlass. Es dauert lange, bis das Schleusenbecken gefüllt und die Höhendifferenz von eineinhalb Metern ausgeglichen ist. Mit dem Wasser steigt die Spannung. Endlich winkt der Schleusenmeister die Kanus in den verbleibenden Platz zwischen der Beckenwand und den Yachten. „Ganz schön eng. Hoffentlich werden wir nicht zerquetscht!“, unken die Kinder, und: „Hey, was die für große Schiffe haben! Aber tauschen würden wir nicht. Paddeln ist lustiger als nur am Ruder zu stehen!“ Dass die Nutzung der Schleuse als einer Bundeseinrichtung kostenlos ist, beeindruckt alle. „Sonst muss man überall bezahlen. Bekommt der Mann, der uns gesagt hat, wo wir hinmüssen, denn kein Geld für seine Arbeit?“ bangt Paul. Daniel Lahe erklärt ihm dass der Staat mit seinen jährlichen Steuereinnahmen die öffentliche Infrastruktur bezahlt

Auf der Rückfahrt beginnt es zu nieseln. Das stört keinen, im Gegenteil. Sarah und Franziska improvisieren ein Regenlied. „Die Kinder erleben hier Erde, Wind, das Wasser und das allabendliche Lagerfeuer. Das entspricht Grundbedürfnissen, die in ihrem Alltag meistens zu kurz kommen, und tut der Seele gut“, meint Katja Rossberg. „Sich auf Augenhöhe mit der Natur zu erleben und zu bewähren, fördert die Selbstsicherheit.“ Weil über jedem See ein anderes Lokalklima herrscht, kennt die Mecklenburgische Seenplatte ohnehin keine langen Schlechtwetterzeiten.

Nach der Rückkehr stürmen einige der Jungs den Volleyballplatz. Daniel Lohe kocht mit Hilfe eifriger Freiwilliger in großen Töpfen Spaghetti mit Gemüsesauce, und Katja Rossmann geht mit den übrigen Kinder zu einer Telefonzelle, damit sie zuhause anrufen können. Die Eltern sind angehalten, ihren Sprösslingen keine Mobiltelefone, Mp3-Player oder ähnliches mitzugeben, weil sie Ablenkung und Unruhe bedeuten und kaputt oder verloren gehen könnten. Julian darf als erster telefonieren. „Papa, mach Dir keine Sorgen“, sprudelt er in den Hörer. „Mir geht es gut. Gleich essen wir Nudeln. Heute sind wir neun Kilometer gepaddelt, und ich und Ole haben einen Ochsenfrosch gefangen. Und morgen bleiben wir auf dem Zeltplatz und dürfen baden. Wir machen bald eine Nachtwanderung. Franziska ist heute ins Wasser gefallen. Und hier im Wald gibt es echte Wölfe!“

Unzählige Sterne leuchten am Himmel. Glutrot steht die riesige Mondscheibe am Horizont. Im Lagerfeuer glimmen die letzten Holzscheite. Trotz des Lärms, den eine benachbarte Jugendgruppe macht, schlafen die meisten Kinder schon. Nur Julian sehnt sich plötzlich nach zu Hause und weint. Katja Rossberg setzt sich in sein Zelt und liest ihm leise ein Märchen vor. Als der Königssohn den Drachen endlich besiegt hat, kuschelt sich auch Julian wohlig in seinem Schlafsack zurecht. „Ich finde, es ist doch sehr schön im Zeltlager“, flüstert er."

(Copyright für Text und Fotos: Andrea Leiber, 2015)